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Wie künstliche Intelligenz bei der Diagnosestellung helfen kann

veröffentlicht am

Teil 3 der Interview-Serie: Im Gespräch mit Univ.-Prof. Dr. Mücke
Wie künstliche Intelligenz bei der Diagnosestellung helfen kann

Im letzten Beitrag unserer Reihe haben Sie erfahren, wie Künstliche Intelligenz in der Medizin eingesetzt und bei der Diagnosestellung von seltenen Erkrankungen helfen kann. Und das ist dringend nötig, denn: Seltene Erkrankungen werden noch immer häufig zu spät erkannt. Neben Fragebögen können Bilderkennungsprogramme eine wertvolle Unterstützung sein. Um eines davon geht es heute: den GestaltMatcher. Prof. Dr. Mücke, erklärt wie dieses Programm funktioniert und wie es eingesetzt werden kann.

Was ist der GestaltMatcher und wie genau kann er bei der Diagnosestellung helfen?

Der GestaltMatcher ist ein Bilderkennungsprogramm, welches mittels der Analyse eines Porträtbildes bei der Differentialdiagnostik im Bereich der genetischen Syndrome und der Entdeckung neuer Erkrankungen helfen kann. Es wird am Institut für Genomische Statistik und Bioinformatik am Universitätsklinikum Bonn ständig weiterentwickelt. Viele seltene Erkrankungen haben charakteristische Merkmale zum Beispiel in der Kopfform oder den Gesichtszügen. Der GestaltMatcher gibt sehr zuverlässig die Ähnlichkeit zu einer Vielzahl an genetischen Syndromen an – damit bekommen wir wertvolle Hinweise und wir können schneller und häufiger eine Diagnose stellen. Mittlerweile kann der GestaltMatcher über 800 verschiedene seltene Syndrome unterscheiden. Dabei werden, vereinfacht gesprochen, die Distanzen in einem multidimensionalen Raum gemessen, der mittels über 8.500 Bildern von Patientinnen und Patienten mit über 800 Diagnosen gefüllt ist.

Das ist eine beeindruckende Zahl. Wird der GestaltMatcher noch mehr seltene Erkrankungen erkennen können?

Ja, die Datenbank des GestaltMatchers wird ständig ergänzt, das heißt neue Daten werden eingepflegt. Die Patienten-Community im Bereich der seltenen Erkrankungen ist für jede Erkrankung zwar relativ klein, aber die Meisten freuen sich, wenn sie ihre Daten für solche Projekte zur Verfügung stellen können und so helfen, zukünftige Diagnosestellungen zu erleichtern. Je mehr Patientendaten in der Datenbank sind, desto exakter kann der GestaltMatcher zwischen Krankheiten unterscheiden, auch wenn diese sich sehr ähnlich sind. Um die Genauigkeit weiter zu verbessern, werden die genetischen Daten nach einer bestätigten Diagnose in der Datenbank ergänzt, sodass die künstliche Intelligenz daraus lernen kann. Neben Porträts und genetischen Informationen sind auch Daten von MRT-, CT- und Röntgenaufnahmen in der GestaltMatcher-Datenbank hinterlegt. Die Trefferwahrscheinlichkeit wird immer höher, je mehr Informationen eine künstliche Intelligenz bekommt und das ist auch hier der Fall: Durch das ständige Ergänzen der Datenbank wird der GestaltMatcher weiterentwickelt, mit dem Ziel in Zukunft weitere Erkrankungen mit einer hohen Genauigkeit zu erkennen.

Woher kam die Idee, den GestaltMatcher zu entwickeln?

Das Gesicht ist für den Humangenetiker, was das EKG für den Kardiologen ist. Es enthält unglaublich viele Informationen, da viele Gene an der Entwicklung der Gesichtszüge beteiligt sind. Patientinnen und Patienten sind häufig darauf angewiesen, auf einen Arzt oder eine Ärztin zu treffen, die aus persönlicher Erfahrung, aus der Fachliteratur, Fallkonferenzen oder Kongressen von der jeweiligen seltenen Erkrankung gehört haben. Die Forschenden wollten ein Programm entwickeln, welches breit verfügbar ist und auch weniger erfahrenen Kollegen und Kolleginnen ein Werkzeug für die Differentialdiagostik an die Hand zu geben. Das Besondere am GestaltMatcher ist außerdem, dass er auch in der Diagnostik ultra-seltener oder bisher nicht bekannter Diagnosen unterstützen kann, indem z. B. die genetischen Daten von sich im multidimensionalen Raum „nahen“ Patientinnen und Patienten in der Folge gemeinsam analysiert werden. Grundlage für das Projekt ist eine große Datensammlung aus zunächst Daten aus wissenschaftlichen Publikationen und nun immer mehr auch von Ärztinnen und Ärzten und Patientinnen und Patienten.  Der große Vorteil dieser Datenbank ist, dass sie frei zugänglich ist für medizinisches und wissenschaftliches Personal, sodass Forschungsgruppen weltweit darauf zugreifen können. Das ist wichtig, denn so können die vorhandenen Informationen zur Entwicklung weiterer Systeme verwendet werden und die Forschung wird nicht durch fehlende Datensätze gebremst. Zudem können Forschende und Patientinnen und Patienten jederzeit die Daten aktualisieren, bearbeiten und löschen.

Kann jede*r den GestaltMatcher nutzen?

Der GestaltMatcher darf nur von ärztlichem und wissenschaftlichem Personal eingesetzt werden, denn das System ist darauf ausgerichtet, die Differentialdiagnostik zu unterstützen. Um dies zu ermöglichen und die Ergebnisse einzuordnen, braucht man das medizinische Wissen und zusätzlich genetische Kenntnis. Eine spezielle Schulung ist aber nicht nötig, denn es gibt Tutorials der Forschungsgruppe, die den GestaltMatcher entwickelt hat. Die Anwendung ist einfach: Man lädt ein Porträtfoto hoch, gibt gegebenenfalls weitere medizinische Daten ein und bekommt dann von dem Programm eine Auswertung. Die Auswertung zeigt, welche seltenen Erkrankungen am nächsten zu den eingegebenen Daten sind.

Kann der GestaltMatcher in Hausarztpraxen genutzt werden?

In der Zukunft ist das denkbar. Momentan ist das Ziel, dass der GestaltMatcher in Kinderarztpraxen und Praxen für Humangenetik verwendet wird. Die Datenbank des GestaltMatchers enthält größtenteils Fotos von seltenen Erkrankungen im Kindesalter und hat daher die höchste Aussagekraft für diese Altersgruppe. Seltene Erkrankungen treten zu 75 – 80 % im Kindesalter auf und gehen oft mit einer veränderten Gestalt des Gesichts einher. Bei seltenen Erkrankungen, die im Erwachsenenalter auftreten, sind veränderte Gesichtszüge eher selten. Aber auch die Daten von erwachsenen Patient*innen werden kontinuierlich in die Datenbank eingefügt, sodass der GestaltMatcher dann auch in Hausarztpraxen genutzt werden könnte. Generell wünschen wir uns natürlich, dass die Technologien genutzt werden und in den Praxen zum Einsatz kommen, um den Weg zur Diagnose zu verkürzen.

Welche weiteren Projekte werden in diesem Bereich entwickelt?

In Zukunft möchten wir Bilder aus der allgemeinmedizinischen Routinediagnostik nutzen, um die Datenbanken zu speisen. Man braucht lediglich gute Fotos, die die jeweiligen Krankheitsmerkmale abbilden. Zum Beispiel Fotos des Rachenraums oder der Haut. Sobald genügend Daten vorliegen, kann die künstliche Intelligenz die Krankheitsbilder zuordnen und so die Diagnose in diesen Bereichen unterstützen. Wir am Institut für Digitale Allgemeinmedizin arbeiten gerade an der digitalen Vernetzung von Hausarztpraxen im Raum Aachen. Denn 90 % der Daten kommen aus den Praxen und nur 10 % aus den Kliniken. Es ist also sehr wichtig, die Hausarztpraxen einzubinden, um die künstliche Intelligenz und damit die Unterstützung bei der Diagnose weiterzuentwickeln.

Im letzten Teil der Interviewreihe erfahren Sie, wie eine digitale Gesundheitsregion entsteht und wie künstliche Intelligenz bei Arztgesprächen helfen kann. Lesen Sie mehr davon, was in diesem Bereich entwickelt wird und wie Patient*innen davon profitieren können. Darüber und über weitere interessante Themen sprechen wir mit Professor Mücke in der nächsten Ausgabe.

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