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Teil 2 der Interview-Serie: Im Gespräch mit Univ.-Prof. Dr. Mücke Künstliche Intelligenz

veröffentlicht am

Künstliche Intelligenz spielt inzwischen eine große Rolle in fast allen Lebensbereichen – auch in der Medizin. Doch was genau ist künstliche Intelligenz und inwiefern kann sie den medizinischen Fortschritt unterstützen? Darüber haben wir uns mit Prof. Dr. Mücke, Direktor des Instituts für Seltene Erkrankungen (ZSEA) an der Uniklinik RWTH Aachen unterhalten. Im zweiten Interview unserer mehrteiligen Reihe erklärt der Experte, wie sich die künstliche Intelligenz entwickelt hat, wie sie funktioniert und warum sie bei den seltenen Erkrankungen eine wichtige Rolle spielen kann.

Was genau ist künstliche Intelligenz und wie entsteht sie?

Künstliche Intelligenz ist wie ein Programm, das nicht nur Befehle umsetzen, sondern auch Entscheidungen treffen kann – also ein „intelligentes“ Programm. Dieses muss trainiert werden. Vergleichbar ist das mit dem Lernprozess bei Kindern: Stellen Sie sich ein 1 oder 1 ½- jähriges Kind vor. Dem Kind fällt die Unterscheidung von Hunden und Katzen noch schwer. Das ist verständlich, denn manchmal sehen sich Hunde und Katzen sehr ähnlich. Durch viele unterschiedliche Situationen mit Hunden und Katzen, durch Korrektur und Wiederholungen, lernen Kinder dann mit der Zeit, Hunde und Katzen voneinander zu unterscheiden. So ist es auch bei der künstlichen Intelligenz: Die Programme werden durch viele verschiedene Informationen (in diesem Fall Fotos von Hunden und Katzen) trainiert, zu unterscheiden. Bei dem Beispiel mit den Hunden und Katzen heißt das: Das Programm kann bei dem Input „Foto mit Hund oder Katze“ entscheiden, welches Tier abgebildet ist. Die künstliche Intelligenz kann heutzutage Hunde und Katzen mit einer Genauigkeit von 98,91 % zuordnen.

Wenn die Kinder ein paar Jahre älter sind, haben sie das Unterscheiden gelernt. Wie lange hat es gedauert, bis die künstliche Intelligenz zuverlässig unterscheiden konnte?

Das hat sehr lange gedauert. Erst 2014 konnte die künstliche Intelligenz zuverlässig Hunde und Katzen unterscheiden. Das ist sehr spät, wenn man bedenkt, dass 2007 das erste iPhone auf den Markt gekommen ist. Man könnte denken, dass die Entwicklung eines iPhones schwieriger ist, als die Erlernung des Unterschieds zwischen Hund und Katze. Das liegt daran, dass der Lernprozess, den die künstliche Intelligenz durchläuft, sehr aufwendig ist.

Seit wann gibt es künstliche Intelligenz?

Die Geschichte der künstlichen Intelligenz beginnt schon früh: Bereits 1958 hat Frank Rosenblatt das erste sogenannte Perzeptron, ein einzelnes künstliches Neuron, beschrieben. Das Perzeptron hat also menschliche Nervenzellen, die die biologische Grundlage für unsere Intelligenz sind, zum Vorbild – daher der Name künstliche Intelligenz. So wie bei einer menschlichen Nervenzelle wird ein Input verarbeitet und ein Output wird hervorgebracht. In dem Beispiel mit der Unterscheidung von Hunden und Katzen ist der Input ein Foto mit dem jeweiligen Tier, gefolgt vom Entscheidungsprozess auf Basis des bisher Gelernten und der Entscheidung „Hund“ oder „Katze“ als Output. Lange hat sich die künstliche Intelligenz nicht durchgesetzt, erst in den letzten Jahren wurde das Thema bedeutender und seit 2021/22 ist es zu einem der Topthemen geworden.

Woran liegt diese vergleichsweise langsame Entwicklung?

Das hat unter anderem etwas mit den Speicherkosten zu tun zu. 1980 hat ein Gigabyte noch 1 Million US-Dollar gekostet. 2021 war der Preis für ein Gigabyte bei nur noch 0,01 US-Dollar. Da kann man sich natürlich vorstellen, dass jetzt viel mehr Datenvolumen und Speicherkapazität genutzt werden kann, um weiter an künstlicher Intelligenz zu arbeiten. Allein diese Veränderung hat einen enormen Effekt. Zur Veranschaulichung: Die Mondlandung hat ungefähr 72 Kilobyte Speicher benötigt. Man hat es mit 85.000 Rechenoperationen pro Sekunde geschafft, auf den Mond zu fliegen. Ein Handy heute hat 512 Millionen Kilobyte Speicher und kann 1 Billion Rechenoperationen pro Minute ausführen. Wir könnten also mit unserem Handy vielleicht durch die ganze Galaxy fliegen. Das zeigt sehr schön, was man mit der heutigen Technik alles leisten kann und wie groß der Fortschritt in den letzten Jahren und Jahrzehnten war.

Welche Rolle spielt die künstliche Intelligenz für die Medizin?

Von Diagnose über Prognose, also Vorhersagen über Krankheitsentwicklungen, bis hin zur Therapie: In der Medizin fallen enorme Datenmengen an, die bewertet werden müssen. Künstliche Intelligenz bietet eine große Chance, Patient*innen zielgerichtet zu helfen, indem zum Beispiel der Weg bis zu einer Diagnose enorm verkürzt werden kann. Künstliche Intelligenz ist demnach extrem wichtig für die Medizin und wird auch in Zukunft immer wichtiger werden. Aber keine Angst: Maschinen werden Ärzt*innen nicht verdrängen, aber womöglich die Ärzt*innen, die die Technik nicht nutzen – einfach, weil die Technik einen enormen Nutzen für die Patient*innen und ihre Gesundheit bietet.

Sie haben den Weg zur Diagnose erwähnt. Wie kann künstliche Intelligenz bei der Diagnostik von seltenen Erkrankungen unterstützen?

Mit Künstlicher Intelligenz kann die Diagnosestellung enorm beschleunigt werden. Das ist auch dringend notwendig, denn oft vergehen viele Jahre mit vielen Besuchen bei verschiedenen Ärzt*innen, bis eine seltene Erkrankung richtig diagnostiziert ist. Viele seltene Erkrankungen sind gut behandelbar – das ist aber erst möglich, wenn diese vorher auch diagnostiziert wurden.

Wie funktioniert das konkret?

Zum Beispiel mithilfe von Fragebögen: Die Künstliche Intelligenz erkennt Antwortmuster und kann sie einer Krankheit zuordnen. Dafür wird der Fragebogen zunächst von Patient*innen ausgefüllt, die schon eine Diagnose haben. Durch diese Informationen lernen die Programme, welche Antwortmuster zu einer bestimmten Krankheit gehören und können diese dann zuordnen. Je mehr Informationen von Patient*innen mit Diagnose vorliegen, desto genauer können die Programme Antwortmuster erkennen und Krankheiten zuordnen. Dadurch wird die Auswertung der Fragebögen immer exakter. Es gibt aber auch Bilderkennungsprogramme, die Porträtfotos von Patient*innen einer Krankheit zuordnen können. Denn viele seltene Erkrankungen zeigen charakteristische Merkmale zum Beispiel in der Kopfform, den Gesichtszügen oder der Mimik. Diese Merkmale werden von den Programmen erkannt und zugeordnet. Die Zuordnung funktioniert sehr zuverlässig. Mittlerweile haben die Programme eine Treffergenauigkeit von über 90 %. Erst kürzlich hatten wir hier am Institut für Seltene Erkrankungen in Aachen einen Patientenfall, bei dem die Diagnose erst nach vielen Jahren gestellt wurde. Mit dem Bilderkennungsprogramm hat es 5 Sekunden gedauert. Das war sehr eindrücklich und zeigt, dass solche Programme den Weg zur Diagnose und damit auch zu einer Behandlung verkürzen können.

Im nächsten Teil der Interviewreihe erfahren Sie mehr über künstliche Intelligenz in der Medizin: Wie kann sie noch eingesetzt werden, was sind die Herausforderungen und was ist eigentlich Virtual Reality? Diese und weitere spannende Fragen wird uns Professor Mücke in der nächsten Ausgabe beantworten.

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