Digitalisierung im Puzzle der seltenen Erkrankungen
Moderne Technologien und engagierte Fachkräfte revolutionieren die Diagnose und Behandlung seltener Erkrankungen. So kann die Kombination aus intensivem Zuhören im Anamnese-Gespräch und fortschrittlichen Tools Puzzleteil für Puzzleteil zusammensetzen und Hinweise auf eine seltene Erkrankung geben. Prof. Dr. Martin Mücke, Direktor des Instituts für Digitale Allgemeinmedizin und Vorstandssprecher des Zentrums für Seltene Erkrankungen (ZSEA) an der Uniklinik RWTH Aachen, verrät im ersten Teil der Interview-Reihe, welche Chancen die Digitalisierung beim Erkennen von seltenen Erkrankungen bietet, welche Bedeutung spezialisierte Zentren bei der Patientenbetreuung haben und was er sich für die Zukunft wünscht.
Wie sind Sie zu den seltenen Erkrankungen gekommen?
Damals wurde die Ambulanz am Zentrum für seltene Erkrankungen in Bonn aufgebaut. Es war das erste in Nordrhein-Westfalen und eines der ersten in Deutschland. Dort hatte ich die Möglichkeit, die Stelle des Ärztlichen Koordinators zu übernehmen und vieles mit- und weiterzuentwickeln. Seitdem bin ich den seltenen Erkrankungen treu geblieben. Die Spurensuche ist eine Herausforderung und sehr interessant. Häufig sind die Beschwerden unterschiedlich und schwer trennbar. Viele Organsysteme können betroffen sein, was die Einordnung schwierig macht. Gerade wegen dieser Heterogenität und Komplexität ist es toll, dass wir für das erste Anamnesegespräch 1 bis 2 Stunden Zeit haben, um die Patient*innen richtig kennenlernen zu können. Diese häufig sehr persönlichen Gespräche, sind auch für mich immer etwas ganz Besonderes, da sie doch auch zur Selbstreflexion beitragen.
Was ist Ihre Aufgabe am Institut?
Vor allem zuhören. Seitdem ich die Leitung übernommen habe, haben sich die Schwerpunkte jedoch verändert. Zu dem Kontakt mit Patient*innen sind die Führung der Mitarbeiter*innen und administrative Aufgaben hinzugekommen. Etwa die Hälfte meiner Zeit arbeite ich für die Patient*innen, die andere Hälfte mit den Patient*innen. Unsere Aufgabe als Team ist das Zuhören, denn das Wichtigste an einer guten Diagnosestellung ist eine ausführliche Anamnese. Und dann puzzeln wir: Wir legen die Unterlagen der Patient*innen zusammen und versuchen das fehlende Puzzleteil zu finden, um ein Gesamtbild zu erhalten. Zusätzlich geht es bei unserer Arbeit viel um das Thema „Awareness“, also darum, das Bewusstsein für seltene Erkrankungen zu erhöhen. Dies gelingt durch das Schreiben von Fachbüchern und Fachliteratur, aber auch durch andere Medienbeiträge wie beispielsweise Podcasts.
Welche Rolle spielt die Kooperation zwischen Hausärzt*innen und den Zentren für seltene Erkrankungen?
Eine wichtige Rolle. Jedoch wissen viele Hausärzt*innen noch nichts von den Zentren für seltene Erkrankungen und so vergehen manchmal Jahre, bis Patient*innen zu einem Zentrum für seltene Erkrankungen kommen und eine Diagnose erhalten. Generell und auch bei vielen seltenen Erkrankungen gilt: Je früher eine Diagnose gestellt werden kann, desto besser. Insbesondere bei Stoffwechselerkrankungen spielt die Zeit eine große Rolle, da es für einige Erkrankungen bereits Medikamente gibt, die das Voranschreiten dieser Erkrankungen aufhalten können. Darum ist es uns auch so wichtig, darauf hinzuweisen, dass es die Zentren für Seltene Erkrankungen gibt.
Eine gute Unterstützung stellt bereits der se-atlas (Versorgungsatlas für Menschen mit Seltenen Erkrankungen) dar. Dabei handelt es sich um eine Webseite, mit der Zentren und Expert*innen gefunden werden können. Hausärzt*innen können diese Plattform nutzen, wenn sie Patient*innen anbinden möchten. In den meisten Fällen kontaktieren uns allerdings die Patient*innen direkt und nicht der/die Hausärzt*in.
Warum ist das Thema Digitalisierung für Sie so wichtig?
Kurze Wege zur Diagnose – hier spielt natürlich die Digitalisierung oder auch spezifischer die Künstliche Intelligenz eine wichtige Rolle. Beides sind Themenschwerpunkte unseres Instituts für Digitale Allgemeinmedizin an der Uniklinik RWTH Aachen, an dem ich forsche und lehre. Zusätzliche Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind Virtual Reality und Medizintechnik: Wir sind also ganz nah dran an den Entwicklungen und Innovationen, die den Weg zur Diagnose von seltenen Erkrankungen entscheidend verändern und verkürzen können.
Inwieweit können die Digitalisierung und die künstliche Intelligenz bei der Diagnosestellung seltener Erkrankungen eine Hilfe sein?
Ein gutes Beispiel hierfür sind Fragebögen, die Patient*innen in den Hausarztpraxen direkt im Wartezimmer ausfüllen können. Diese können Hinweise darauf geben, ob möglicherweise eine seltene Erkrankung vorliegt. Aber auch Bilderkennungsverfahren können die Diagnosestellung unterstützen. Dabei werden beispielsweise Fotos der Patient*innen mit äußeren Merkmalen von seltenen Erkrankungen verglichen und Übereinstimmungen hervorgehoben. Das ist ein Vorteil, denn Hausärzt*innen, denen diese seltene Erkrankung noch nicht begegnet ist, würden solche Übereinstimmungen oft nicht erkennen. Erhält man durch dieses Bilderkennungstool einen Hinweis auf eine spezifische Erkrankung, kann diese dann durch humangenetische Verfahren z.B. eine sogenannte Exomdiagnostik bestätigt oder ausgeschlossen werden. Hier helfen neuartige Technologien also schon konkret bei der Diagnosestellung.
An welchen Projekten arbeiten Sie momentan?
Momentan arbeiten wir an einem Atlas für seltene Erkrankungen – als Buch und digital. Es handelt sich um ein internationales Projekt mit vielen Beiträgen von Expert*innen verschiedener Länder. Dabei sammeln wir Informationen über seltene Erkrankungen und stellen die wichtigsten Informationen der jeweiligen Krankheit kompakt auf einer Seite vor.
Was sind Ihre Ziele und Visionen für die Zukunft im Bereich der seltenen Erkrankungen?
Ich wünsche mir, dass die Zentren für seltene Erkrankungen noch mehr wahrgenommen werden. Auch von der Politik und den Krankenkassen, sodass eine langfristige Finanzierung dieses wichtigen Bereichs gesichert werden kann. Das ist nötig, um die Erhaltung dieser Zentren zu gewährleisten. In den letzten Jahren wurden die Zentren oft aus den Bordmitteln der Universitätskliniken oder aus Spenden finanziert. Es sollte eine deutschlandweite Finanzierung der Zentren sichergestellt werden.
Zudem wünsche ich mir, dass die Wahrnehmung für seltene Erkrankungen geschärft wird: Ca. 5 Prozent der Bevölkerung leiden an seltenen Erkrankungen, das sind 4 Millionen Betroffene in Deutschland. Die seltenen Erkrankungen zusammengenommen sind so weit verbreitet, wie die großen Volkskrankheiten. Da gibt es aber noch ein großes Ungleichgewicht, wenn man bedenkt, wie viele Ärzt*innen zum Beispiel für die Behandlung von Diabetes zur Verfügung stehen und wie wenig Ärzt*innen auf seltene Erkrankungen spezialisiert sind. Deswegen möchte ich mich auch für eine Spezialisierung der Ärzt*innen einsetzen, also beispielsweise eine Facharztausbildung für seltene Erkrankungen.
Im nächsten Teil unserer mehrteiligen Interviewreihe wird Professor Mücke nähere Einblicke in den Bereich der Künstlichen Intelligenz bei seltenen Erkrankungen geben. Diese ist aktuell in aller Munde. Aber was ist Künstliche Intelligenz überhaupt und wie kann sie in der Medizin und insbesondere bei seltenen Krankheiten zum Einsatz kommen? Diese und weitere spannende Fragen wird uns Professor Mücke beantworten.
MAT-DE-2402811(V1.0)-07/2024